WISSENSSTRUKTUREN

Im künstlerischen Schaffen von Raphael Spielmann geht es um die Befragung von Wissensstrukturen. Er untersucht visuelle Phänomene, die (kanonischen) Bilder der Kunstgeschichte, die Digitalisierung und wie diese unsere Wahrnehmung und unser visuelles Wissen verändern. Seine Arbeit bietet viele Anknüpfungspunkte, die ein Weiterdenken ermöglichen und auch erfordern. Er schafft dabei Bilder, die theoretische Reflexion und technisches Können zu einer ästhetischen Seherfahrung verbinden.

Dr. Lisa Bauer-Zhao, Dez 2020
Museum für Neue Kunst (mnk) Freiburg


DIGITALITÄT

Im Laokoon von Raphael Spielmann scheinen am Beispiel der antiken Figurengruppe symbolische Farbformen einen Kampf auszutragen - im Gegeneinanderstehen der analogen Farben als kontrastreiche Töne und Helldunkelgegensätze und im Auflösen der digitalen Formen in Fetzen und Formteile innerhalb einer Tafel und auf den vier Bildteilen.

Raphael Spielmann hat eine zeitgenössische Umsetzung in seinen stark subjektiven Acrylsetzungen gefunden, die mit kräftigen Farben arbeiten und dabei einen vieldeutigen digital-analogen Abstrahierungsprozess schaffen. Er hat die Polychromie der Antike aufgegriffen und zeitgenössisch frei variiert - nicht um einer Kontinuität der Geschichte willen, sondern als in doppelter Hinsicht geschichtsbewussten Vorgang: Er aktualisiert kulturelles und geistesgeschichtliches Erbe durch bildnerische Anverwandlung und Überführung in zeitgenössische bildmaterielle Objekte und bringt anhand dieser Motive durch die hybride Form der technischen Ausarbeitung mit digitalen und analogen Anwendungen Gegenwartsthemen von Unübersichtlichkeit und Materialüberfülle zum Ausdruck. [...]

Durch die spezielle Technik erscheint die 'Venus' zart und fast ätherisch. Die helle Gestaltung knüpft in ihrere Leichtigkeit an das marmorne Vorbild an. Statt der Festigkeit der Marmorstatue ist es die Durchlässigkeit der Zeit, die verweht und vergeht....in einer ephemeren vergänglichen Gestalt als Zeichen vergangener Menschheitsepochen.

Susanne Meier-Faust, M. A., 15. Okt 2019
Anlässlich der Ausstellung 'Digitalität' im Landratsamt Breisgau-Hochschwarzwald


FORTSCHRITT DURCH ANALOGTECHNIK

Der Effekt dieses Joint Ventures zwischen digitaler und analoger Technik ist bemerkenswert. Die Objekthaftigkeit der getrockneten, leicht gewölbten Aquarellpapierbögen zum 'Torso vom Belvedere' korrespondiert hier schön mit der ephemeren Transparenz der virtuellen 3D-Ansichten, deren kühle Präzision wiederum durch das händische Kopierverfahren im Realraum geerdet ist.

Tatsächlich interessiert sich Raphael Spielmann schon seit längerem für die Tücken derartiger Übersetzungsprozesse zwischen der digitalen und der analogen Welt. Für zwei großformatige Landschaftszeichnungen eines Gletschers auf Spitzbergen und einer Vogelperspektive auf die Nordsee griff er so auf JPGs aus dem Internet zurück, die er am Rechner in Polygonalnetze auflöste und per Hand auf das Papier übertrug. Stürzt das Eis hier in scharfkantigen Strichkaskaden durch den Bildraum, bildet das Wasser nebenan ein nervöses Gittermuster. Beide Motive sind mit den GPS-Koordinaten ihrer geografischen Position betitelt – die Gletscheransicht zusätzlich mit dem Abrufdatum des Bildes im Netz. Denn es ist keineswegs sicher, ob hier in 50 Jahren immer noch Eisstrukturen zu erkennen sein werden – oder ob dann nicht beide Motive längst ununterscheidbar ineinander verschwimmen.

Für seinen 3D-Scan des Laokoon etwa setzte Spielmann gut zwei Dutzend Mal neu an und markierte die digitalen Puzzleteile dann jeweils in einer der grellen Farben, die ihm die Software anbot. Stück für Stück montierte er diese bunt schillernden Fragmente dann zu einer wie vom Sturm zerrissenen Figur, die aus nichts als aus hauchdünnen, mal von innen, mal von außen einsehbaren Folienfetzen zu bestehen scheint. Im Siebdruckverfahren auf Aludibond-Platten gebracht und mit matten Acrylfarben koloriert, präsentierte er eine Auswahl dieser Digitalcollagen kürzlich in der Freiburger Künstlerwerkstatt L6. Während sich die in Blau, Violett und Pink gefasste Laocoon-Gruppe hier im Kampf gegen ihre digitale Dekonstruktion auf vier im Quadrat gehängten Bildplatten wand, hatte Spielmann nebenan eine stark fragmentierte Version des Torso von Belvedere auf drei übereinander hängenden Aluplatten wie einen Raumteiler zwischen Decke und Boden aufgespannt. Die grell-matte Farbigkeit der Figur auf dem schimmernden Grund der schwebenden Metallträger erzeugte den Eindruck einer künstlich konstruierten Räumlichkeit. Man könnte es den Versuch einer materialsensiblen, im besten Sinne handwerklichen Nachbildung digitaler Ästhetik nennen, den Spielmann mit seiner Arbeit unternimmt. Worauf sie zielt, ist die intensive Erkundung des Erfahrungsraumes zwischen digitaler und analoger Wirklichkeit.

Dietrich Roeschmann, Jul 2018
Anlässlich der Ausstellung 'Laokoon & Co.' in der Künstlerwerkstatt L6